Sie klappte den Laptop zu und sah für einige Minuten aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers in den Garten hinunter. Die Schaukel schwankte im Wind. Sie hatte sich geirrt. Es war nun ihre Pflicht, zu ihrem Irrtum zu stehen, den Schaden zu begrenzen, ihren Schluss daraus zu ziehen.
Sie klappte den Laptop wieder auf und schrieb eine Mail an ihren Chef: Es tue ihr leid, aber sie habe sich geirrt. Sie habe Fälschliches behauptet. Keine Erfahrung habe sie, keine Kompetenzen, keine Ahnung. Sie bitte darum, ihre sofortige Kündigung zu akzeptieren und sie schnellstmöglich freizustellen. Sie öffnete ihre Banking-App und überwies das letzte Monatsgehalt zurück an das kleine, aufstrebende Unternehmen, für das sie nun nicht mehr arbeitete.
Nachdem das erledigt war, kündigte sie ihre Versicherungen. Hausrat. Berufsunfähigkeit. Krankheit. Rente. Es ging leicht, sie musste nur Anrede und Adresse ändern, der Text war immer derselbe. Sie habe sich vertan. Sie brauche niemanden, der sie versichere, sie sei bereits in größtmöglicher Sicherheit. Mit freundlichen Grüßen. Dann löschte sie all ihre Social-Media-Profile. Meldete all ihre Newsletter ab. Kündigte ihre Online-Abos. Überwies all ihr Geld an das Finanzamt und löste ihre Konten auf. Als sie fertig war, war bereits Mittag. Sie formatierte die Festplatte und klappte den Laptop wieder zu.
Mit dem Kreditvertrag für das Haus war es schwieriger, sowie mit der Ehe. Beides wurde man durch Verwaltungsakte wieder los, doch es waren komplizierte Verwaltungsakte, für die sie keine Zeit hatte. Sie machte es sich leicht und schrieb einen Brief: Ich habe mich geirrt, Fälschliches behauptet, ich liebe nicht, oder nicht dich, oder vielleicht nicht für immer. Bitte lass mich gehen und verzeih, dass ich mich nun selbst schnellstmöglich freistelle.
Sie rief beim Jugendamt an, fragte, ob es möglich sei, das Sorgerecht für die Kinder zurückzugeben, und traf auf alarmiertes Unverständnis. Also rief sie in der Kita an und erklärte dem Anrufbeantworter, dass sie für die Hol- und Bringedienste in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen würde und eine andere Lösung gefunden werden müsse.
Als ihr keine administrativen Schritte mehr einfielen, die sie hätte unternehmen können, um ihren Irrtum zu bereinigen, legte sie ihren Haustürschlüssel auf den Brief an ihren Mann, und den Brief an ihren Mann auf den Küchentisch. Dann zog sie die Wanderschuhe an, ließ die Tür ins Schloss fallen, tätschelte ihrem Fahrrad im Vorbeigehen liebevoll den Sattel und ging so lange nach Süden, bis die Straße unter ihren Füßen zu Weg wurde und der Weg zu Wiese und die Wiese zu Wald und der Wald zu Berg. Erst in ausreichender Höhe wandte sie sich um.
Dann ergriff sie die Landschaft an ihren Rändern, raffte sie zusammen wie ein Taschentuch, auf dem jemand eine ekelhafte Schweinerei hinterlassen hat, knüllte das Ganze zu einem großen Ballen und hielt ein brennendes Streichholz daran. Der Ballen fing Feuer, die Flammen fraßen sich in seine Furchen, Aschefetzen lösten sich und zerfielen zu Nichts. Bevor sie sich die Finger verbrannte, ließ sie den letzten Fetzen los, und er stieg, all seiner Schwere beraubt, ins Unermessliche.
(Am Erker Nr. 83, Oktober 2022)